Studiobühne der Theaterwissenschaft
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Kritik

Neue Wege für eine neue Operettenästhetik?

'Weißes Rössl' als sexy Studentenrevue in München

Kritik von Dr. Kevin Clarke

Es gibt derzeit in Deutschland im Bereich Operette zwei Bewegungen, die diametral entgegen zueinander verlaufen und dadurch die Beschäftigung mit der Kunstform bedauerlicher- und ärgerlicherweise nicht bereichern nach dem Motto 1 + 1 = 2, sondern behindern (1 – 1 = 0) und immer wieder auf den längst überwunden geglaubten Status quo der 1980er Jahre zurückwerfen – die Zeit, als die Operette dank unerträglich biederer TV-Sendungen und haarsträubend pseudo-seriöser Wunschkonzerte mit Anneliese, Ingeborg, Erika, Margit, Melanie & Co. einen langsamen und qualvollen Tod starb.
Was dann mit der zerfledderten ‚Leiche’ geschah und worin die aktuelle Problematik liegt, lässt sich gut am Beispiel der Revueoperette ‚Im weißen Rössl’ und der Stadt München darstellen, von wo in jüngster Zeit wegweisende Impulse kamen, für ein Revival des todgeglaubten Genres (und ‚Rössls’) einerseits und seine – kaum von den Toten auferstanden! – abermalige ‚Ermordung’.

Zwischen Kunst und Kommerz

Doch der Reihe nach. Dank der harmlos-niedlichen Verfilmungen des Stücks in der Nachkriegszeit (1952 mit Johannes Heesters, 1960 mit Peter Alexander) und den entsprechenden Bühnenaufführungen, stand das ‚Rössl’ bis vor kurzem im Verruf, ein vollkommen antiquiertes, blödsinniges und uninteressantes Stück zu sein, mit dem sich kein selbstrespektierender Intellektueller beschäftigt hätte. Entsprechend negativ fiel auch das Urteil vom inzwischen pensionierten Operetten-Guru Volker Klotz in seinem Buch ‚Operette: Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst’ aus. Von Rührstück und Reaktionär ist da die Rede, von Humorlosigkeit und mangelnder Ironie.
Doch dann geschah das Wunder: die hochseriöse wissenschaftliche Serie Musik-Konzepte des Münchner Verlags edition text + kritik brachte unter seinem neuen Herausgeber Ulrich Tadday im Oktober 2006 einen Band zum ‚Weißen Rössl’ heraus (‚Zwischen Kunst und Kommerz’) und veröffentlichte damit erstmals in deutscher Sprache Essays, die belegen, dass das ‚Rössl’ in seiner ursprünglichen jazzigen Form von 1930 ungemein witzig, spritzig, sexy und sehr, sehr modern ist. Parallel dazu kam beim Label Duophon eine CD heraus mit den historischen Originalaufnahmen, die das Ganze erstmals auch akustisch nachvollzieh- und überprüfbar machten.
Seither ist das Stück in kurzer Folge in Inszenierungen herausgekommen, die mit wechselndem Erfolg versuchten, sich auf diese bei Musik-Konzepte und Duophon aufgezeigten kabarettistisch-parodistischen Revueideale von einst zurückzubesinnen. Und die ‚Rössl’-Revivallawine kam ins Rollen. Man entdeckte an deutschen Staatstheatern das Stück wieder. Es steht demnächst an mehreren großen Häusern auf dem Programm. Und das ist gut so. Sehr gut.

Ludwig Maximilians Universität

Noch besser ist es, dass eine entscheidende Forderung des Musik-Konzepte Bands erhört wurde: dass sich nämlich nicht nur die Theater, sondern auch die Forschung und Wissenschaft endlich des Werks und der Gattung annehmen sollte. Denn zu entdeckten gäbe es allein schon beim ‚Rössl’ vieles, was über die Musik-Konzepte hinaus geht (eine Rekonstruktion der verschiedenen musikalischen Fassungen, eine Edition der verschiedenen Libretti, ein Suchen nach den originalen Orchesterstimmen usw.). Nun hat der Operettenfachmann und Dozent Stefan Frey in München an der Ludwig Maximilians Universität erstmals für Studienanfänger der Theaterwissenschaften zum ‚Rössl’ einen ‚Schnupper-Kurs’ angeboten, dessen Abschluss eine Inszenierung des Werks auf der Studiobühne des Instituts war. Diese Produktion hatte am Dienstag dieser Woche Premiere und erregte (zurecht) überregionales Interesse: Die Vorstandsvorsitzende der Europäischen Stiftung zur Pflege und Erneuerung der Operette kam angereist, Mitarbeiter der Bayerischen Staatsoper, des Teenie-Blatts ‚Bravo’ und vom TV-Sender Kabel 1 werden erwartet und Fachleute aus Leipzig, Dresden und Amsterdam erschienen. Sogar Charles Kálmán – Sohn von Operettenlegende Emmerich Kálmán – saß im Publikum. Die von den Studenten selbst betreute PR hat da offensichtlich viel richtig gemacht!

Hochgradig amüsanter Hetero-Sex

Schon die Lektüre des Programmhefts zeigte, dass die Studenten das Musik-Konzepte Buch intensiv gelesen und eifrig recycelt haben. Sie haben auch viele der dort gemachten Vorschläge auf verblüffende Weise aufgegriffen, was sich am besten mit dem Begriff ‚gender reversal’ beschreiben lässt. D.h. sie machten beispielsweise aus dem dauernörgelnden Fabrikanten Giesecke (Trikotagen Berlin, Leipziger Straße) kurzerhand die Geschäftsfrau Gundula von Gieseke, herrlich à la Angela Merkel gespielt von Ursula Suwelack. Am Anfang schien es kurz auch so, als sei der Leopold mit einer Frau besetzt, was dem Stück einen interessanten lesbischen Touch gegeben hätte. Es stellte sich dann aber schnell heraus, dass der vermeintliche Leopold nur ein weiblicher Piccolo (Marlen Fercher) war und der Zahlkellner im weiteren Verlauf vom knabenhaft koketten Martin Petschan gespielt wurde. Neben dem die bayuwarisch deftige Rebecca Mack als Rössl-Wirtin fabelhafte Figur machte.
Eine solche zu Beginn vermutete homoerotische Lesart des Werks wurde suggeriert durch ein auffallend rosafarbenes (glitzerndes!) Alpenpanorama und einen Leopold (männlich wie weiblich) in campy rosa Glitter-Frack. Statt Homoerotik bot die Inszenierung dann jedoch lieber hochgradig amüsanten Hetero-Sex. Und das mit Gusto. Dass die 18 bis 23-jährigen Studenten dem ‚Rössl’ und der Operette überhaupt wieder die fürs Genre essentielle Erotik zurückgaben – auf selbstverständliche und lustvolle Weise – darf des weiteren als richtungsweisend gelten. Denn es zeugt von der überfälligen Rückbesinnung auf das vor Sex fast berstende Original!
Das anwesende, überwiegend jugendliche Publikum hatte jedenfalls merklich Vergnügen an dieser alpinen Farce, am höheren Nonsense der Vorlage, der hier in einer gelungen gekürzten 1 ½ Stunden Fassung über die Bühne ging, mit schrill-schräger Begleitung von Sophie Walz am Klavier (und Mini-Band). Man kann sagen: Wenn der Nachwuchs auch künftig so mit Operette umgehen wird, dann stehen der Kunstform gloriose Zeiten bevor. Operette à la Bully Parade mit zündender Musik, viel Humor und Spaß, Spaß, Spaß. Ganz heutig. Ganz gelungen. Ganz entstaubt. Von den Zuschauern zwischen 18 und 35 mit Dauerschmunzeln genüsslich goutiert.

Irrungen und Wirrungen des Gefühls und der Gastronomie

Stefan Frey sagte zur Arbeit mit den Regisseuren und Forschern von morgen: ‚Das Aufregende war vor allem, dass die Studenten bis auf wenige Ausnahmen erstens das Stück gar nicht kannten, also auch nicht seine Verhunzungen, und daher völlig unbelastet damit umgehen konnten; es ihnen zweitens mit dem Genre Operette genauso ging. Drittens konnte ich also Stück und Studenten frisch und frei aufeinander loslassen, und sehen, was mit beiden passiert. Und beide haben sich gefunden, die Studenten den Zugang zur Operette und die Operette jene Lebendigkeit, die ihren Reiz ausmacht. Ein spannender Prozess.’ Dessen Resultat genau so wurde, wie im Programmheft angekündigt: ‚Irrungen und Wirrungen des Gefühls und der Gastronomie, der Herzens- und Geld-Ökonomie.’ Als besonderen Gag hatte man den Kaiser Franz Joseph mit Prof. Jens Malte Fischer besetzt, dem Leiter des Instituts (und bekannten Mahler-Biografen). Als sich die Darsteller bei seinem Auftritt ehrfurchtsvoll auch den Boden schmissen, um ihm zu huldigen, ging ein unglaublicher Lacher durch den Saal. Ebenfalls, als der hohe Herr mit verklärtem Bass sein Lied ‚Es ist einmal im Leben so’ rezitierte. Es war durchsetzt mit Ironie und Lebensweisheit, die bei den anwesenden Studenten mit diesem Darsteller doppelt wirkte.
Erwähnt werden muss unbedingt noch der sensationell gute, weil gekonnte übertrieben spielende Sunnboy mit weißem Tennisdress und zurückgegelten blonden Haaren, Andreas Lutzenberger, als smarter Dr. Siedler, der die Titelmelodie zum Besten geben durfte und dies mit derart ekstatischer Hingabe tat, dass der Saal flach lag.

Fatale Gegenbewegung

Ist das nicht alles positiv? Ja, natürlich. Aber es gibt da auch jene erwähnte fatale Gegenbewegung, für die ebenfalls München der Ausgangspunkt ist. Denn kaum ergab sich ein erneutes historisch informiertes Interesse an der Operette und eine Rückbesinnung auf seine überaus moderne, eklektische Urgestalt, da erkannten auch die Macher des Nachrichtenmagazins ‚Focus’, dass darin eine Story schlummern könnte. Und sie beschlossen, den Trend auszumelken mit einer eigenen CD-Serie (und Geschichte im Heft) mit dem Titel ‚Operette: Das Beliebteste & Schönste’. Doch statt die positive neue Herangehens- und Umgangsweise zu übernehmen – die sicherlich für ‚Fakten, Fakten, Fakten’ interessierte Leser des Blatts geeignet wäre – veröffentlichte ‚Focus’ genau jene EMI-Aufnahmen mit Rothenberger & Co., wegen derer man in den 1980er Jahren die Nase voll hatte von Operette.

Konkret heißt das: Jemand, der dank Musik-Konzepte oder vergleichbaren neuen Publikationen auf das Genre Operette neugierig wird und sich die viel beworbene, überall ausliegende ‚Focus’ Edition kauft, wird mit den alten grausigen Aufnahmen konfrontiert. Es fällt schwer sich vorzustellen, dass ein an Wirtschaft, Zeitgeschehen und Politik interessierter Jungmanager (und ‚Focus’-Leser) daheim Gefallen an Rothenbergers opernhaft geträllertem ‚Im weißen Rössl am Wolfgangsee, da steht das Glück vor der Tür’ haben könnte. Er könnte aber sehr wohl Interesse an einer Reportage zu den historischen Hintergründen des Stücks haben, seiner internationalen Erfolgsgeschichte von Berlin bis New York, Sydney und Südafrika, seinen Uraufführungssängern (die teils im Konzentrationslager umkamen oder nach 1933 ins Exil nach Amerika gingen), an den fetzigen Jazzband Aufnahmen, die man bei Duophon hört, an all dem, was das ‚Rössl’ so einzigartig interessant macht.

Interesse verloren

Der ‚Focus’-Musikredakteur war bei der Premiere des ‚Rössl’ in der Ludwig Maximilians Universität nicht zu entdecken. Vielleicht hat er selbst beim Anhören der CDs von ‚Operette: Das Beliebteste & Schönste’ das Interesse am Stück verloren? (Verständlich wäre das.) Zu hoffen bleibt, dass das den vielen anderen ‚Focus’-Lesern nicht ebenso geht. Dass sich die Studenten-Herangehensweise in Zukunft durchsetzen wird. Und dass die positive Entwicklung nicht ständig wieder zurückgeworfen (und geschädigt) wird, durch unbedachte Medienaktionen, wie der von ‚Focus’. (Es gibt da natürlich auch noch diverse andere Fallbeispiele.)
So etwas hat das ‚Rössl’ nicht verdient und das Genre Operette auch nicht. Bitte stattdessen weitere hochgradig amüsante, sexuell aufgeladene Versionen wie die derzeit in München zu bestaunende. Weitere Vorstellungen sind bis zum 3. Februar, jeweils um 20 Uhr.